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Diskussion über unser Manifest zur sozialistischen Filmarbeit

1.2.08

Kritik und Gegenkritik
"…die nicht mit den Wölfen heulen"

Der Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier hat unser Konzept sozialistischer Filmarbeit kritisiert, das er einst selbst in seinem Buch über Joris Ivens positiv dargestellt hat. Welche theoretischen Mängel hinter diesem Revisionismus stehen, kann man aus unserer Antwort erkennen...

                        Inhalt

Auszüge aus den Aufsatz von Klaus Kreimeier:
"Joris Ivens - Revision einer Biografie" von 2001

E-Mail von Klaus Kreimeier an die "Erinnyen" vom 24.1.08

Antwort von Gaßmann auf die Kritik von Kreimeier

Literaturbelege

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Auszüge aus dem Aufsatz von Klaus Kreimeier: "Joris Ivens - Revision einer Biografie" von 2001, und kurze Kommentare von uns:

„(…) der pathetischen Formel von der ‚Kamera als Waffe’ haftet heute etwas Pueriles (Kindische, d. Red.), Unreifes an. Und selbst, wer dies nicht akzeptiert, wird einräumen müssen, dass die weitere Entwicklung der Medienzivilisation, die Omnipräsenz der Videokamera und die Satelliten-Technik die Formel gründlich pervertiert haben. Wir müssen heute mit der Vorstellung leben, dass auf jeden beliebigen Punkt der Welt solche Kamera-Waffen gerichtet sind oder gerichtet sein können – Waffen der Aufklärung, der Überwachung, der Kontrolle, der Entlarvung und der Überrumpelung. Im Golfkrieg schließlich waren die Waffen selbst mit elektronischen Augen ausgestattet, haben die Raketen ihren eigenen Dokumentarfilm gefilmt und in Echtzeit an die Kommandozentralen geschickt. Wie die Dinge stehen, könnte man die Vorstellung, die Welt mit der Kamera zu ‚ent-decken’ und sie von den bösen Mächten zu befreien, als letztes Kapitel des großen Kolonialabenteuers verabschieden.

Die Formel „Kamera als Waffe“ wäre „pervertiert“, im gleichen Atemzug spricht er von der Kamera als „Waffe der Aufklärung“ – wir verstehen es nicht.

Es fiele somit nicht schwer, den Abenteuerroman Joris Ivens definitiv in irgend einem hinteren Regal abzustellen, dort wo Karl May und Cooper, Robin Hood und Lawrence von Arabien sich gegenseitig ihre Geschichten vom schönen gefährlichen Leben erzählen. Auch den Traum vom schönen ‚gefährlichen Leben’ müssen wir heute den Kindheitsträumen zuordnen. Den Kindheitsträumen der individuellen Lebensgeschichten wie auch denen der Menschheit, die im 20. Jahrhundert auf eine schreckliche Weise erwachsen geworden ist. Die vielen Träume vom gefährlichen Leben haben die Zivilisation insgesamt auf eine gefährlich abschüssige Bahn gebracht.

Nicht die Dynamik der Kapitalproduktion, sondern „Träume vom gefährlichen Leben“ sind die Ursachen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts – welch eine Geschichtsphilosophie!

Auf Ivens’ Biografie zurückzublicken, heißt also, von einigen Mythen Abschied zu nehmen. Mancher bewältigt dieses Abschiednehmen heute mit einer Geschwindigkeit, die mich teils vor Neid erblassen, teils vor Scham erröten lässt. Gescheiterten Hoffnungen immer neue Todesstöße zu versetzen, gehört heute zum Geschäft der ‚Abrechnungen’, die eher Exorzismen zu nennen wäre.“ (S. 26f.) 

Kreimeier versetzt gescheiterten Hoffnungen den verbalen Todesstoß und beschwert sich zugleich „vor Neid“ darüber, dass dies andere schneller können, um zugleich dieses „Abschiednehmen“ zu beklagen  – welch ein feuilletonistischer Unsinn.

„Die nahezu religiöse Gewissheit, in einem globalen Szenario auf der richtigen Seite zu stehen – damals -, und die intellektuelle Ratlosigkeit, die uns heute inmitten der Wirbel globaler Kapitalströme erfasst, sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Einsicht, nicht klüger geworden zu sein, hat auch einen sehr ungemütlichen Aspekt.“ (S. 27)

Wer ist „uns“? Kreimeier verwechselt die dogmatischen Grüppchen, die sich an eine Ideologie anhängten, hinter der eine Macht stand, mit der Linken insgesamt.

„Eine merkwürdige Konstellation: Der Dokumentarist arbeitet nun mit einer tragbaren und beblimpten (mit Schallschutz, d.Red.) Tonfilmkamera, also mit modernem technischen Gerät – aber das Medium Dokumentarfilm ist schon etwas altmodisch, obwohl das neue Medium Fernsehen auch seine Dokumentarfilme sendet, weil das Fernsehen in seiner Unersättlichkeit alles absorbiert, was irgendwie mit laufenden Bildern zu tun hat und den Hunger auf Wirklichkeit zu sättigen verspricht.“ (S. 31)

Welch ein Widerspruch: Der Dokumentarfilm ist „altmodisch“ und zugleich Inhalt des Neuen. Vielleicht ist nur die Begrifflichkeit altmodisch, nämlich vorrational.

„Ivens’ Filme, am eindrucksvollsten wohl seine Vietnam-Filme, formulieren authentisch, dass die internationale Linke in diesem Jahrhundert, aller Pyrrhus-Siege ungeachtet, stets in der Defensive war. Aber dem heutigen Blick geben sie noch etwas anderes preis: dass die Linke die defensive Position für ihr Selbstbild benötigt; sie musste mit dem Rücken zur Wand stehen, um ihre Militanz zu feiern und gleichzeitig sich selbst und dem Gegner ihre moralische Reinheit zu demonstrieren. Heroische Abwehrkämpfe von Invasoren, Aggressoren, Imperialisten, Ausbeutern und Unterdrückern jeglicher Spielart - auf Sieg oder Tod: Dies war die große politische Phantasmagorie, mit deren Hilfe das weltrevolutionäre Projekt, lange Jahrzehnte mit Erfolg, seine Identität, seine faszinierende Kraft behaupten konnte. Bis nicht mehr zu übersehen war, dass im Namen dieses Projekts sich neue Feudalsysteme etabliert hatten, deren ökonomische Inkompetenz nur noch von ihrer Verachtung elementarer Menschenrechte überboten wurde.“ (S. 31)

Hat es unter den Linken keinen gegeben, der die Politik rational durchdrungen hat, war kein Antiautoritärer in der Lage, die autoritäre Politik der Sowjetunion oder Chinas zu durchschauen? Oder ist es nur die „Inkompetenz“ von Kreimeier, der aus der Linken hier pauschal faszinierte Psychopathen macht, der die Gesellschaftstheorie auf Worthülsen herunterbringt und Moral unter Terrorismusverdacht stellt, wie besonders aus folgendem Zitat hervorgeht?

„Allzu makaber ging zu Bruch, was länger als ein halbes Jahrhundert die Hoffnungen aller tugendhaften Menschen auf der Welt in seinen Bann zog, und allzu ernüchternd ist das Fazit, das da lautet: der Terror der Tugend vermag es mit jeder anderen menschenfeindlichen Tyrannei aufzunehmen.“ (S. 24)

Kreimeier hat anscheinend nie Lenin gelesen: „Moralisch ist alles, was dem Kommunismus nützt!“ Kreimeiers moralisierende Karikatur des realen Kommunismus soll wohl eher ihm selbst, der fasziniert war, im Nachhinein die guten moralischen Absichten seiner falschen Identifikationen bescheinigen.

Dass Kreimeier auch differenziert die Filmarbeit von Ivens einschätzen kann, zeigt unser letztes Zitat über den Filmcyclus „Wie Yü-Gung die Berge versetzte“:

„Es ist wahr – Ivans weigert sich, das verlogene Spiel mitzuspielen, und wahr ist auch, dass ein ehemaliger Funktionär der Jugendliga, von dem Ivens vermutet, dass er während der Kulturrevolution kaltgestellt worden sei, mit Billigung Tschou-Enlais dem Filmteam den nötigen Freiraum verschafft, ohne den YUKONG – ein zwölfstündiges Panorama des chinesischen Alltags, voll präziser Beobachtungen und unabgelöster Widersprüche – nicht entstanden wäre. Die Ironie der Geschichte: Dieses Riesenwerk, das noch immer den ‚sozialistischen Elan’, aber auch die Erschöpfungen, die Aporien, das Schweigen nach dem Terror der Jugendbrigaden widerspiegelt, wird von der ‚antirevisionistischen’ Linken im Wesen als Hymne auf die Errungenschaften der ‚Großen Proletarischen Kulturrevolution’ rezipiert.“ (. 32)

Trotz aller Differenzierungen darf ein Seitenhieb auf frühere Genossen nicht fehlen – wer ist hier in der Defensive?

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Die E-Mail von Klaus Kreimeier an die „Erinnyen“ vom 24.1.08:

Liebe Kolleginnen und Kollegen -

als Netz-Flaneur (Nachfolge-Typus des spätbügerlichen Müßiggängers) bin ich zufällig auf Ihre Seite gestoßen, die ich mit wachsender Aufmerksamkeit gelesen habe.

Zunächst: es ehrt mich gewiß, daß Sie mein kleines Buch über Joris Ivens von 1977 neben Brechts Radiotheorie und Benjamins Kunstwerkaufsatz als Grundlagenschrift Ihres Manifests zur sozialistischen Filmarbeit aufführen. Allerdings muß ich Sie auf einen Irrtum aufmerksam machen. Mein Büchlein fungierte damals - nach langen Gesprächen, die ich mit Ivens selbst führen durfte - als revolutionäre Kampfschrift gegen eine reformistische, von meinen Kombattanten und mir als "revisionistisch" eingeordnete Strömung unter linken Filmemachern, eine Strömung, die wir als "bürgerlich" brandmarkten, jedenfalls als unbekömmlich für die Arbeiterklasse und die revolutionären Völker der Dritten Welt. Zum Hintergrund gehörten seinerzeit die ideologischen Auseinandersetzungen an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), an der ich in den 70er Jahren lehrte, ferner meine eigenen Erfahrungen in einem Komitee zur Unterstützung der revolutionären Filmarbeit in Vietnam (wir sammelten damals Geld und kauften 16mm-Kameras, "Kameras als Waffen", für junge vietnamesische Filmteams, die gegen die US-amerikanischen Invasoren operierten).

So viel zum historischen Kontext meiner kleinen Schrift. Jedenfalls hätte ich auch damals, als ich mich im Besitz unanfechtbarer "wissenschaftlicher" Erkenntnisse über die Weltlage wähnte, dementiert, eine medientheoretische Grundlagenschrift verfaßt zu haben, die es mit Brecht und Benjamin hätte aufnehmen können. Um so absurder muß mir heute diese Zuordnung erscheinen. Nicht, daß ich mich von meiner schriftstellerischen Produktion der 70er Jahre distanzieren würde: sie gehört zu mir, weil alles, was jemals in einem Menschenleben gedacht, gesagt und geschrieben wurde, ein integraler Bestandteil eben dieses komplexen Lebens ist. Aber das Ivens-Buch von 1977 war damals und ist heute noch, nehmt alles nur in allem, ein zeitbedingtes, wenn auch mit Verve und Engagement geschriebenes Pamphlet.

Es tut mir leid, daß Sie nun Ihren Irrtum ausbaden müssen. Ein Leser hat Sie freundlich darauf aufmerksam gemacht, daß ich in puncto "Kamera als Waffe" und vermutlich auch in einigen anderen Fragen meine Auffassungen von 1977 geändert habe, und zum Beleg hat er auf einen zweiten Text verwiesen, den ich 2001 über meinen alten Freund Joris Ivens geschrieben habe. Ich kann ganz gut Ihren Ärger verstehen, daß Ihnen eine Grundlagenschrift für Ihr Manifest so hartherzig weggeknallt wurde. Aber mit Ihrer Reaktion kann ich nicht zufrieden sein. Sie bemühen sich, meine altes Erzeugnis (trotz meiner damaligen maoistischen Irrtümer) zu retten. Das ist nett. Dann aber setzen Sie alle Hebel in Bewegung, um mich gegen mich selbst in Schutz zu nehmen. Das ist weniger nett, vor allem aber vollkommen unnötig, zumal ich in Konfliktfällen meinen Schutz lieber in die eigene Hand nehme.

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Sie behaupten, heute sei ich leider "wie die Macher in der Modeindustrie", die "den neuesten Trends folgen"; ich hätte "eine eigene (bürgerliche) Philosophie bei der Hand", mache auf "Paradigmenwechsel" Jagd, die "Wahrheit" verkomme bei mir "zum Konsens". In meinem zweiten Text über Ivens geriere ich mich, behaupten Sie, "als Abwickler einer Politik der Veränderung der kapitalistischen Produktionsweise"; ich huldige einem "falschen Denken", Leuten wie mir fehle "ein Selbstvertrauen in die Vernunft und das eigene Denken, sie lassen sich von den Zeitströmungen Bange machen und mitreißen". Undsoweiter...

Da es ja um mich geht, erlaube ich mir, Sie zu fragen, wie Sie zu diesen erstaunlich gemeißelten Erkenntnissen gekommen sind. Als Beleg für den ahnungslosen Leser veröffentlichen Sie ja nur ein paar Zeilen aus meinem Text "Revision einer Biografie?" (das Fragezeichen, das Sie unterschlagen haben, ist nicht ganz unwesentlich) - eben jene Zeilen, die Ihnen der kritische Leser zur Kenntnis gebracht hat. Ich frage mich, welche Anhaltspunkte Ihnen diese wenigen Zeilen liefern, um mich in einer Weise als Klassenfeind anzuprangern, die mich an die starren und undialektischen Lagermentalitäten der 70er Jahre erinnert.
Zumindest hätten Sie den ganzen Text von 2001 einer Prüfung unterziehen und ggf. veröffentlichen müssen, um meine Positionen von heute einschätzen zu können. Sie wären dann allerdings zu dem Ergebnis gekommen, daß mein Aufsatz "Revision einer Biografie?" sich zentral mit Ivens beschäftigt, mit seinem politischen Lebensweg, mit seinen Enttäuschungen angesichts der Entwicklungen des "realen Sozialismus" und mit den Lebenslügen, die sich an seine Hoffnungen auf Maos "Kulturrevolution" knüpften - Hoffnungen, die damals auch meine und die zahlloser anderer Sozialisten in der westlichen Welt gewesen sind. Kein Zweifel - indirekt spreche ich in diesem Text auch über mich selbst, reflektiere mein eigenes Denken und die Wandlungen, die ich als linker Intellektueller durchlaufen habe. Es wäre fair gewesen, wenn Sie sich zumindest mit den Gedankengängen dieses Essays auseiandergesetzt hätten, um zu einem Urteil über meine Positionen von heute zu kommen (da ich schon nicht erwarten kann, daß Sie sich mit meinen anderen Publikationen aus den letzten drei Jahrzehnten befassen - so viel Sorgfalt ist in der Epoche von "copy and paste" nicht mehr zu erwarten).

Ihr Manifest hatte ich zunächst mit Neugier, auch mit Sympathie gelesen - am Ende überwog dann doch die Frustration: jene Frustration, die man bei der Wiederbegegnung mit abgetragenen alten Hüten empfindet. Wort für Wort, Satz für Satz hätte anno 1970 von mir oder meinen zahlreichen linken Filmgenossen geschrieben werden können - es gibt diese Texte auch noch, mein Archiv ist unerschöpflich, falls Sie Interesse haben sollten, könnte ich liefern. Ich kann diese Lektüre, in der man so viele Versatzstücke des eigenen Denkens, der eigenen Sprache, der eigenen Anmaßungen, der eigenen mit Emphase vorgetragenen Irrtümer wiederfindet, nur als Gespensterstunde beschreiben. Wir alle - ob Reformisten, Marxisten-Leninisten, Revisionisten, Unorganisierte oder "Spontis" - sind mit eben diesem Konzept sozialistischer Filmarbeit in den 60er und 70er Jahren furchtbar gescheitert - und das, obwohl es eine relativ breite linke, z.T. gut geschulte sozialistische Strömung gab - zahlreiche Filmemacher und Filmergruppen, die bereitstanden, ihre Kamera in eine Waffe zu verwandeln - und ein paar Hunderttausend junger Arbeiter und Angestellter, die außer den Studenten in Bewegung geraten waren. Es muß also etwas fundamental falsch gewesen sein: idealistisch, voluntaristisch, in der politischen Analyse vollkommen daneben und anachronistisch in Bezug auf den gesellschaftlichen Grundwiderspruch. Mit anderen Worten: schon damals haben wir die Filmpolitik Lenins und der Thälmann-Zeit zu reanimieren versucht - pure Leichenfledderei. Heute, 2008, den eigenen Textschablonen wiederzubegegnen, ist nachgerade schwindelerregend.

Der Ton, in dem Sie dann mit mir Schlitten fahren, hat mich zwar geärgert, aber nicht mehr überrascht. Es sind die mir nur allzu vertrauten Freund-Feind-Schemata im Kopf und die Exkommunizierungs-Rhetorik im Sprachstil, die dem heutigen Leser vielleicht erklären, warum unsere revolutionäre Filmarbeit "damals" scheitern mußte - und warum sie auch heute eine taube Nuß ist, wenn sie nichts hinzugelernt hat.

Mit freundlichen Grüßen

Klaus Kreimeier   

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Eine Antwort auf Kreimeiers E-Mail und die Revision seiner früheren Position, die er in dem Buch: Joris Ivens. Ein Filmer an den Fronten der Weltrevolution, Berlin 1977, einst vertrat, von Bodo Gaßmann:

Sehr geehrter Herr Kreimeier,

anscheinend habe ich bei Ihnen einen wunden Punkt mit meiner Kritik getroffen, dass Sie mir eine Antwort von zwei Seiten dagegen setzen. Wir haben unterschiedliche Auffassungen und dabei wird es wohl auch bleiben. Dennoch kann es zu Ihrer und meiner Selbstverständigung sowie für den Leser nützlich sein, wenn ich Ihnen ebenfalls ausführlicher antworte.

Sie behaupten gegen alle Logik, ich hätte Ihren Aufsatz „Revision einer Biografie“ nicht gelesen – woher hätte ich denn sonst ihre heutige Position kennen sollen, zumal Sie richtig unterstellen, dass ich Ihren Werdegang seit 1977 nicht verfolgt habe? Außerdem bezieht sich meine Kritik auf diesen Aufsatz, dessen Inhalt Sie anscheinend auch nur pauschal im Gedächtnis haben, denn das Fragezeichen kommt entgegen Ihrer Reklamation tatsächlich nicht im Titel vor (obwohl es der Tendenz Ihres Texte entspricht). Damit ist bereits ein Achtel Ihres Textes widerlegt!

Weitere Teile ihrer E-Mail habe ich nicht verstanden, weil sie sachlich (nicht „dialektisch“) widersprüchlich, also unverständlich sind. Einmal wollen Sie sich nicht von der Film-Position, die sie in den 70er Jahren eingenommen haben, distanzieren, Sie distanzieren sich aber tatsächlich permanent davon, vor allem sehr drastisch, wenn Sie mir dieses Konzept ausreden wollen.

Einmal werfen Sie mir vor, ich würde Ihre heutige Position nicht zur Kenntnis nehmen (siehe oben), andererseits unterstellen Sie mir, ich würde Sie als „Klassenfeind“ anprangern. (Ich habe das Wort nie benutzt und bin auch kein Angehöriger oder Vertreter der Arbeiterklasse – allerdings leugne ich auch nicht, dass es Klassen gibt.)

Einmal kritisieren Sie mich, bringen aber außer Leerformeln keine Argumente vor.

Einmal bedienen Sie antikommunistische Klischees (siehe unten), andererseits bezeichnen Sie sich immer noch: „ich als linker Intellektueller“ (Mail).

Das alles ist verwirrend, wenn man Ihre Position verstehen will.

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Zur Gesellschaftstheorie und zur Veränderung

Sie werden mir zustimmen, dass über Filmarbeit, gar sozialistische Filmarbeit nur vernünftig gesprochen werden kann, wenn solchen Projekten eine Gesellschaftstheorie zugrunde liegt. Deren Inhalt ist der eigentliche Kern unseres Dissenses.

Es gibt objektive Gründe gegen das kapitalistische System zu sein, unabhängig davon, ob eine revolutionäre Stimmung vorherrscht, ob Massen hinter dieser Kritik stehen oder nicht, ob die Arbeiterklasse revolutionär oder angepasst ist oder ob sie überhaupt noch als Klasse für sich in Erscheinung tritt. Diese Gründe sind auch unabhängig davon, ob eine Gegenmacht wie die Sowjetunion oder das ehemals maoistische China existiert. Wenn in der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise und deren politischer Absicherung Kriege „strukturell“ angelegt sind und die angehäuften modernen Destruktionsmittel die Menschheit mehrmals ausrotten können, dann ist es eine moralische Pflicht und dann liegt es im eigenen langfristigen Interesse, gegen diese leichenträchtige Ökonomie anzugehen (von der Zerstörung einer lebenswerten Umwelt, der Ausbeutung von Menschen, dem Elend in den Ländern der „3. Welt“ usw. will ich der Kürze halber gar nicht reden).

Nun kommen Sie daher, um mir eine sozialistische Gegenposition und eine sozialistische Filmarbeit auszureden. Damit Sie dass nicht wieder abstreiten, hier Ihre eigenen Worte. Zunächst  aus Ihrem Text von 2001, den ich angeblich nicht gelesen haben soll:

„Heute wissen wir, dass der Aufbruch der Neuen Linken in den urbanen Zentren ein letztes Aufflackern des marxistischen Projekts gewesen ist, vielleicht schon sein Dementi, ganz sicher aber der Beginn eines langen Abschied von einer Utopie.“ (S. 31)

Und in Ihrer Mail an mich schreiben Sie:

 „Wir alle - ob Reformisten, Marxisten-Leninisten, Revisionisten, Unorganisierte oder "Spontis" - sind mit eben diesem Konzept sozialistischer Filmarbeit in den 60er und 70er Jahren furchtbar gescheitert - und das, obwohl es eine relativ breite linke, z.T. gut geschulte sozialistische Strömung gab - zahlreiche Filmemacher und Filmergruppen, die bereitstanden, ihre Kamera in eine Waffe zu verwandeln - und ein paar Hunderttausend junger Arbeiter und Angestellter, die außer den Studenten in Bewegung geraten waren. Es muß also etwas fundamental falsch gewesen sein (…).“

Wenn das keine Revision Ihrer früheren Position ist, dann weiß ich nicht, was Revision sonst sein soll. Bei allem feuilletonistischen Hin- und Herräsonieren ist die Tendenz zur abstrakten Negation von Ivens Filmstrategie unverkennbar. Gerade diesen Vorwurf bestreiten Sie aber in ihrer Mail.

Die Problematik liegt aber tiefer, und zwar in den falschen philosophischen Implikationen Ihrer heutigen Position.

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„Paradigmenwechsel“ als Vorwurf

Sie gehen von einem „Paradigmenwechsel“ aus – das ist Ihr Wort, nicht von mir konstruiert (vgl. S.30 in Ihrem Aufsatz von 2001) – verunglimpfen aber Ihre eigene Vorstellung, indem Sie in der Mail meinen Vorwurf mit „ich (…) mache auf ‚Paradigmenwechsel’ Jagd“ bestreiten. In dem Zitat aus Ihrem Aufsatz von 2001 geht es zwar um Ivens, es ist aber auch Ihre Position, wie aus den obigen Zitaten hervorgeht und Sie selbst in Ihrer Mail zugestehen.

„Das Fernsehen hatte Joris Ivens, das ‚Auge des Jahrhunderts’, eingeholt. Seine Dokumentarfilme waren plötzlich ein beinahe archaisches Medium – aber wo immer sie Mitte und Ende der 1960 Jahre gezeigt wurden, setzten sie Sturmsignale für eine intellektuelle Minderheit, für die Neue Linke von Berkeley bis Berlin und ihr moralisches Engagement. Parallel zum Medienwechsel vollzog sich ein Paradigmenwechsel im ideologisch-politischen Bereich: zunächst von den Fronten der Anti-Hitlerkoalition zu den Demarkationslinien des Kalten Krieges; dann von der Festung Sowjetunion zum erhofften Aufbruch der Völker der Dritten Welt; schließlich von der Linie der KPdSU, deren Führern Ivens nicht mehr über den Weg traute, zu den Lehren Mao tse Tungs.“ (S. 30 f.)

In diesem Zitat suggerieren Sie, dass Theorie (bei Ihnen Ideologie) keinen Wahrheitsgehalt hat, sondern bestimmten Stimmungen und historischen Veränderungen, die mehr oder weniger an der Oberfläche liegen, folgt.

Dass sich die Welt im technologischen, im politischen und auch im Medienbereich ständig ändert, ist einfach nur Fakt und jedes vernünftige Denken muss darauf reflektieren. Wenn man daraus aber unkritisch einen ständigen Wechsel „im ideologisch-politischen Bereich“  - so wie Ihr Paradigmenwechsel von der Negation des Bestehenden zu dessen Affirmation - konstruiert, dann wird das eigene Denken zum Abklatsch des Ganges der Weltgeschichte, es verliert seine Autonomie gegenüber den Ereignissen. Frank Kuhne schreibt über die Erkenntnistheorie, die dahinter steht:

„Die Theorie vom Paradigmenwechsel scheint die historischen und insofern kontingenten Bedingungen wissenschaftlichen Fortschritts ernst zu nehmen, ohne in einen vollendeten Relativismus zu führen. Doch die, Kantisch gesprochen, kollektive Einheit der empirischen Bewußtseine, die sie allein kennt, ist nicht in der Sache begründet und daher der Wissenschaft selbst äußerlich. Kants objektiver Wahrheitsbegriff, wonach ‚nicht die Allgemeinheit des Führwahrhaltens die objektive Gültigkeit eines Urteils (d.i. die Gültigkeit desselben als Erkenntnisses) beweise, sondern, wenn jene auch zufälliger Weise zuträfe, dieses doch nicht einen Beweis der Übereinstimmung mit dem Objekte abgeben könne“, ist ihr fremd.“ (Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und Fichte, Hamburg 2007, S. 326)

Ich bezweifle, dass Joris Ivans solchen Paradigmenwechsel folgte, wie sie das suggerieren – jedenfalls soweit ich seine Auffassung (u.a. auch aus Ihrer Schrift von 1977) kenne. Er hatte bei allen Fehlern, die er gemacht hat, und allen Täuschungen, die er erlegen sein mag, seinen moralischen Impuls, gegen Elend und Krieg durch das Kapital mit der Kamera und dem Dokumentarfilm zu kämpfen, nie aufgegeben. (Dies zeigt mir z. B. Fred Gehler in demselben Band wie Ihr Aufsatz.)

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Ihre skeptizistische Position

Sie kritisieren Ihren revolutionären Standpunkt, den Sie in ihrem ersten Ivens-Buch eingenommen haben, sie kritisieren die westdeutsche Linke und schließlich das gesamte „marxistische Projekt“ (siehe das obige Zitat). Da Sie andererseits den „Wirbel globaler Kapitalströme (S. 27 in 2001) auch nicht wollen, bleibt nur die „intellektuelle Ratlosigkeit“ (ebda). Dieser Skeptizismus kommt auch in dem Totschlag-Argument zum Ausdruck, sie hätten früher „unanfechtbare ‚wissenschaftliche’ Erkenntnisse“ (Mail) gehabt. Zwischen diesem angedeuteten Dogmatismus der 70er Jahre und ihrem Skeptizismus heute liegt nur ein kleiner Schritt! Ihr Skeptizismus wie jeder andere widerspricht sich jedoch selbst: Er meint, alles sei zweifelhaft, er lässt Leute wie Sie in „intellektueller Ratlosigkeit“ (2001, S. 27) zurück, dieser Zweifel, diese Ratlosigkeit wird aber dogmatisch als Wahrheit verkündet. Ebenso wollen Sie mir die Grundlage meines Manifestes „wegknallen“, das „marxistische Projekt“ sei gescheitert usw., also sind Sie doch nicht so ratlos, wie sie behaupten.
Auch ihre Formulierung, ich hätte „erstaunlich gemeißelte Erkenntnisse(n)“, ist nur rhetorisch, enthält nur eine Behauptung ohne meine Erkenntnisse widerlegt zu haben, ist also Teil Ihrer skeptischen Rhetorik.

Ihre Mail ist nicht der erste Versuch, die „Erinnyen, Zeitschrift für materialistische Ethik“ ohne Argumente, aber durch den Zweifel an allem - nur nicht den Zweifel am Zweifel selbst – von den gewonnenen Einsichten abzubringen, so als wüssten Sie, dass sie falsch sind. Ein konsequenter Skeptizismus müsste eigentlich schweigen – wie noch Aristoteles und Hegel wussten; da die heutigen Skeptiker und Ratlosen aber sehr beredt sind, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass ihr Skeptizismus angesichts des ständig sich ausweitenden Wissens nicht ernst gemeint ist, sondern eine Ideologie (falsches Bewusstsein) zur Paralysierung des kritischen Denkens.

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Wissenschaftliches Denken und Film

Wenn jemand eine Erkenntnis gewonnen hat und er veröffentlicht diese, dann verselbstständigt sie sich seinem Autor gegenüber. Das muss nicht immer schlecht sein:  „was einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er allen erworben.“ (Friedrich Schiller)  Nun hat eine Medientheorie keinen notwendigen Gegenstand wie etwa die Naturwissenschaften, noch nicht einmal kann sie sich auf „allgemeine Tendenzen“ berufen, wie Marx dies im „Kapital“ in Bezug auf Gesetze dieser Produktionsweise feststellt. Dennoch gibt es pragmatische Regeln, die, wenn man sie verletzt, zu schlechten Ergebnissen führen. Eine Medienauffassung in Gestalt eines Manifestes oder von Prinzipien der Dokumentarfilmerei hat deshalb eher den Rang von Kochrezepten oder – mit Kant gesprochen – von technischen und pragmatischen Imperativen, die immer nur hypothetisch sein können (im Gegensatz zum „kategorischen Imperativ“).

Was ich damit sagen will, ist: Sie können Ihre Strategie, die Sie am  Dokumentarfilmer Ivens herausgefunden und dargestellt haben, nicht mehr zurückziehen oder zur Makulatur erklären oder zur nostalgischen Jugenderinnerung abstempeln. Das mag für Ihr Bewusstsein gelten, nicht aber für die Leser. Insoweit sie stimmig und deshalb einsichtig ist, wird sie zum Allgemeingut der Filmemacher, die sich an der Vernunft orientieren.

Was ist falsch an der Forderung, im Dokumentarfilm das Allgemeine im Besonderen aufscheinen zu lassen? Was ist falsch daran, der immer stärker werdenden Verblödung im Fernsehen, mit einer – wenn auch noch so bescheidenen - Gegenöffentlichkeit zu konfrontieren. Was ist falsch am Konzept einer sozialistischen Filmarbeit, wenn diese politische Richtung die einzige ist, die den Katastrophenkapitalismus auf bestimmte Weise negieren kann. Akzeptiert man einmal, dass heute Herrschaft überflüssig ist und abgeschafft gehört, dann ist die sozialistische Filmarbeit zur Aufklärung und Begleitung einer heutigen und möglichen zukünftigen sozialistischen Bewegung, welche Gestalt sie auch annehmen wird, ein praktisch notwendiger integraler Bestandteil dieser Bewegung.

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Idealismus- und Voluntarismus-Vorwurf

Das Internet bietet heute linken Gruppen die Möglichkeit mit wenig finanziellen Mitteln Texte, Fotos und Filme zu publizieren. Warum soll man diese neuen Möglichkeiten nicht nutzen. Eine Gegenöffentlichkeit existiert bereits. Anstatt diese mit Ihrem Wissen zu unterstützen, machen Sie auf Defätismus. In Ihrer Mail schreiben Sie über das frühere Konzept sozialistischer Filmarbeit in den 60er und 70er Jahren:

„Es muß also etwas fundamental falsch gewesen sein: idealistisch, voluntaristisch, in der politischen Analyse vollkommen daneben und anachronistisch in Bezug auf den gesellschaftlichen Grundwiderspruch. Mit anderen Worten: schon damals haben wir die Filmpolitik Lenins und der Thälmann-Zeit zu reanimieren versucht – pure Leichenfledderei. Heute, 2008, den eigenen Textschablonen wiederzubegegnen, ist nachgerade schwindelerregend.“

Die Frage ist doch nicht, irgendwelche Konzepte (Rezepte) zu reanimieren, sondern ob man die Maschine laufen lässt, bis sie vor die Wand knallt, oder ob man sich einmischt – wie hoffnungslos auch immer. Ob die Filmarbeit damals gescheitert ist, kann ich nicht beurteilen, da ich mich darum nicht gekümmert habe. Die Tatsache, dass die Filme von Ivens nicht mehr z.B. auf DVD aufzutreiben sind – etwa im Gegensatz zu den russischen Filmen von Vertov und Eisenstein, die als Avantgardisten für die Filmschüler bereitgehalten werden, zeigt mir eher, dass dieses Konzept nicht gescheitert ist, sondern die Leute haben einfach damit aufgehört. Es sei denn, sie meinen mit „politischen Analyse“ den Größenwahn, mit Filmen die Welt grundlegend und in kurzer Zeit zu verändern. Film kann immer nur wirkliche Bewegungen begleiten. Und, wenn es diese nicht mehr gibt, dann kann er vorwiegend emotional zumindest Aufklärung betreiben, um neue Bewegungen anzuregen.

Sie haben ja Ihrer Kurzbiografie zufolge am eigenen Leib gespürt, dass sozialistische Filmarbeit nicht gerade karrierefördernd ist. Ein gewisser Idealismus gehört deshalb dazu, wenn man Filme macht, die dem Mainstream inhaltlich oder formal entgegenstehen. Meine Lebenszeit z.B. wäre mir zu schade, um irgendwelche ästhetischen oder politischen Kompromisse einzugehen. Ich lebe nicht vom Film oder der Filmkritik. Wenn ich schon Zeit und Kreativität in das Filmemachen investiere (ich fange erst an, das „Manifest“ diente meiner Selbstverständigung und sollte andere anregen, sich zu beteiligen), dann will ich Filme in Zukunft aufnehmen, die an die –vielleicht rhetorisch überspitzten Thesen meines Manifestes anknüpfen.

Und „voluntaristisch“ wäre nur dann ein Vorwurf, wenn man völlig ohne theoretische Analyse vorgehen würde. Jede politische oder ästhetische Tätigkeit impliziert einen willensmäßigen Antrieb, also ein „voluntaristisches“ Moment. Ohne diesen Aspekt kommt nichts zustande, noch nicht einmal ihre abstrakte Negation der sozialistischen Filmarbeit.

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Antikommunistische Klischees und Sprache des Kalten Krieges

Spricht man mit eingefleischten Gegnern des Sozialismus, dann hört man die üblichen Sprachklischees, die zwar voller Behauptungen stecken, aber keine Argumente enthalten: Sie kritisieren Wörter wie „Klassenfeind“, mit dem sie bedacht werden, sprechen von „undialektischer Lagermentalität“, nennen Bestrebungen, die Verhältnisse zu ändern, „anachronistisch“, es sei die Wiederbelebung von „abgetragenen alten Hüten“, die man „nur als Gespensterstunde beschreiben“ könne, „pure Leichenfledderei“, welche die „Filmpolitik Lenins und der Thälmann-Zeit zu reanimieren versucht“. Sie raunen vom „vertrauten Freund-Feind-Schemata“ und „Exkommunizierungs-Rhetorik im Sprachstil“, womit sie jede argumentierende Kritik abwürgen wollen.

Diese „Textschablonen“ der Kalten Krieger finden sich nicht nur in Kommentaren der FAZ oder bei Westerwelle, sondern es sind Zitate aus Ihrer Mail, mit der sie mich bedenken.

Bloße Behauptungen sind Meinungen, die man nicht widerlegen kann, weil sie keine Gründe enthalten. Man kann nur das Gegenteil behaupten – und dann ist die Kommunikation beendet.  Die  Formulierung, Sie damals und ich heute, wir würden „die Filmpolitik Lenins und der Thälmann-Zeit zu reanimieren“ versuchen, enthält zumindest eine pauschale Sachaussage – die allerdings von wenig Kenntnissen zeugt. Die Filmpolitik in den zwanziger Jahren in der Sowjetunion war durch eine Vielzahl von Strömungen bestimmt, die keine Einheitlichkeit aufweist, sodass man sie „reanimieren“ könnte. Lenin kam mit der modernen Kunst wie dem „Proletkult“ überhaupt nicht zurecht. „Die politischen Revolutionäre waren auf Grund ihrer Erziehung und Bildung größtenteils ästhetische Konservativisten.“ (Anweiler/Ruffmann: Kulturpolitik der Sowjetunion, Stuttgart 1973, S. 194) Das gilt „insbesondere nachweisbar für Lenin“ (ebda). Die eigentliche Kulturpolitik wurde von Lunacarskij gemacht, der versuchte den Künstler zumindest ästhetische Autonomie zu sichern. Die Folge war eine Vielfalt von künstlerischen Strömungen, die noch heute – besonders in der Filmarbeit – bewundert werden. Wie kann man dann von einer Filmpolitik Lenins sprechen. Analog gilt dies für die „Thälmann-Zeit“: Die treibende Kraft innerhalb der KPD-Filmpolitik war Münzenberg, der sich hütete, den einzelnen Strömungen Vorschriften zu machen – wie konnte er das auch, die Künstler wären zur SPD oder anderen linken Gruppen gewechselt. Babette Gross schreibt darüber: „Bei den leitenden Instanzen der Komintern und der deutschen KP hingegen kümmerte man sich wenig um Münzenbergs Filmgeschäfte. Von allen Betrieben, die er gegründet hatte, unterlag die „Prometheus“ am wenigsten der Kontrolle oder Kritik der Parteiinstanzen.“ (Willi Münzenberg. Eine politische Biografie, S. 187 f., die „Prometheus“ hat Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin“ verlegt und „Kuhle Wampe“ finanziert.)

Auch hier hat die Rede von einer Reanimierung keinen sachlichen Gehalt. Im Gegenteil: Es ist das übliche antikommunistische Klischee, das man benutzt, weil man keine Argumente hat. Die sogenannte „Stalinisierung der KPD“ durch die Thälmannfraktion hat jedenfalls kaum einen Niederschlag in der sozialistischen Filmarbeit gehabt. Die Gleichschaltung der Filmarbeit und ihre beengende Einschwörung auf einen dogmatisch erstarrten „sozialistischen Realismus“ ging bis Mitte der Dreißiger Jahre in der Sowjetunion, als Thälmann schon längst im faschistischen Gefängnis saß. Was also ist die „Filmpolitik (…) der Thälmannzeit“? Im Grund suggerieren Sie, ich würde die Stalinisierung erneuern wollen! Das ist infam. Ihre Aussage, mit der Sie mich zu kritisieren scheinen, ist also falsch, denunziatorisch und ein antikommunistisches Klischee.

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Das Verhalten als Intellektueller

Es heißt, man soll den Idealen, Ideen und Träumen seiner Jugend treu bleiben. Vielleicht mit etwas mehr Realismus, aber ohne sie zu verleugnen. Das ist selbstverständlich nur eine Lebensmaxime wie jede andere auch. Es kommt auf den Inhalt der Ideale usw. an. Wenn allerdings ein Intellektueller, also ein „Priester der Vernunft“ wie ihn Fichte nennt, die Vernunft verleugnet, wider alle Erkenntnis den Skeptizismus predigt oder bürgerlichen Ideologien vertritt (Ideologie verstanden als soziologisch notwendiges falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung), gemeint ist die gesamte Tendenz Ihres Aufsatzes von 2001 und Ihrer Mail an mich, dann ist dies auch moralisch verwerflich. Die praktische Vernunft des Menschen ist die Voraussetzung jeder Moral und jeder legitimierbaren Praxis, diese praktische Vernunft abzuwerten oder gar zu leugnen, wie es der Skeptizismus macht, setzt den Gewaltverhältnissen, die der Kapitalismus sowieso erzeugt, intellektuell nichts entgegen. Das Gegenteil der Moral ist der Krieg aller gegen alle, in welcher historischen Weise er auch auftritt (was nicht heißt, man könne heute immer moralisch handeln). Nach meiner Auffassung hat jeder Intellektuelle eine Verantwortung für seine Schriften und öffentlichen Äußerungen. Er sollte sich überlegen, was er sagt und schreibt, und nicht antikommunistische Vorurteile reproduzieren.

Man kann jede Entscheidung eines Individuums, sich nicht mehr für eine Veränderung der Verhältnisse zu engagieren, akzeptieren. Aber in das Gegenteil zu verfallen und die alten Positionen zu denunzieren (antikommunistischer Jargon), zu verunglimpfen (anachronistisch) und lediglich mit dem empirischen Argument, man hätte keinen Erfolg gehabt, defätistisch abzuwerten, ist unlauter, moralisch verwerflich und deutet einen Persönlichkeitsdefekt an.

Gegen diese widervernünftige Haltung hat schon Kant eingewandt: Es kann nichts „Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle guten Absicht vereitelt hätten.“ (Kritik der reinen Vernunft, B 373) 

Nach 1989 ist solch eine Auffassung wie die Ihre nicht selten gewesen. Rudolf Bahro hat schon viel früher diese Erfahrung mit den Resignierenden in der DDR gemacht, bevor er selbst aus der „intellektuellen Ratlosigkeit“ in religiöse Wahnvorstellungen entschwunden ist. Er schreibt über einst begeisterte Anhänger des Sozialismus:

„Mancher, der einstens mit uns den Freiheitsbaum
   jubelnd umtanzte, fand sich bald weise ab
     mit dem, was ist, und kehrte nüchtern
         heim ins gewöhnliche Schneckendasein.“

Und wenn diese Resignierer dann kritisiert werden, reagieren sie so, wie es bei Bahro metaphorisch einige Verse weiter heißt:

„erloschene Krater, insgeheim die
      immer noch brennenden Berge hassend.“
(Bahro: …die nicht mit den Wölfen heulen, Ffm. 1979, S. 124).

   In einem muss ich Ihnen Recht geben. Auch wenn Brecht und Benjamin nicht einfach als Autoritäten zu nehmen sind, wie Sie in Ihrer Mail andeuten, sondern unter dem kritischen Blick (nach Kant in der Moderne der einzig mögliche) ebenfalls hier und da Unsinn offenbaren, so war es doch falsch, Ihre Schrift von 1977 neben diese beiden in der Literaturliste kommentarlos anzugeben. Als Entschuldigung kann ich nur anführen, dass ich selektiv gelesen habe.

Ich hoffe Sie nehmen meine Kritik nicht allzu übel.

Mit freundlichem Gruß

B. Gaßmann

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Literaturbelege

Klaus Kreimeier: Joris Ivens. Ein Filmer an den Fronten der Weltrevolution, Berlin 1977.

Klaus Kreimeier: Joris Ivens - Revision einer Biografie, in: Poesie und Politik. Der Dokumentarfilmer Joris Ivens (1898 - 1989), hrsg. v. Jan-Pieter Barbian, Werner Ruzicka, Trier 2001, S. 23 - 34.

E-Mail von Klaus Kreimeier an die "Erinnyen" vom 24.1.08

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